Ausstellung Kunstkabinett im Paula Becker Haus, Bremen
Bernadette Lahmer
Ein Garten
Fotografie, Haiku, Shodo
Eröffnungsrede 18.11.2011
Hanne Zech
langjährige stellvertretende Direktorin der Weserburg.
„Im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen“
Diesen Satz von Robert Musil, der damit im „Mann ohne Eigenschaften“ die
Entfaltung eines schöpferischen Möglichkeitsinns anspricht, möchte ich
gleichsam als Motto meiner Überlegungen zu einer Ausstellung wählen, in der wir
uns Werken in unterschiedlichen Medien und aus verschiedenen Zeiten und
Kulturen gegenüber sehen. Ich möchte der Frage nachgehen, welche Bedeutung
das Unfeste – man könnte auch sagen das Fließende oder Prozesshafte –
sowohl für die Werke selbst und ihr Zusammenwirken hat, wie auch für uns als
Betrachter. Was macht es uns möglich, dem noch nicht so Gesehenen,
Erfahrenen offen zu begegnen und jenseits aller Kategorien und zeitlicher wie
kultureller Grenzziehungen einen transkulturellen Dialog zu beginnen?
Kein Rahmen grenzt die Fotografien von den Wänden ab. Der Verweis auf den
Umraum - die leere Wand und die anderen Arbeiten - wird dadurch verstärkt
wahrgenommen. Es sind dies: Drei klassische Haikus von Kyorai, Seira und
Sampu aus dem 17. und 18.Jahrhundert, die Bernadette Lahmer ausgewählt und
zusammen mit Aki Tsurumi-Geiken neu ins Deutsche übersetzt hat. Neben dem
deutschen Text - natürlich als lateinische Schriftzeichen zu sehen - wird jeweils
die Visualisierung des Haiku in der lebendigen Linie der japanischen Hiranga
Schrift (einer reinen Lautschrift) in den Kalligrafien von Yuki Sekikawa-Klink
gezeigt, die seit ihrer Kindheit diese Kunst des Shodo praktiziert.
Bernadette Lahmer hat in die Ausstellung ihrer Fotografien – von denen viele in
den letzten Wochen entstanden sind – diese künstlerischen Medien aus einem
anderen Kulturkreis integriert, da sie alle Werke in diesem Miteinander für eine
neue, ganzheitliche Seh- und Erfahrungsweise öffnen möchte.
Was bedeutet dies? Zunächst einmal bedeutet es nicht, sich das Fremde als
zusätzlichen exotischen Reiz, als Illustration der Fotografien oder als Übernahme
stilistischer Elemente anzueignen. Eine derartige Aneignung gab es z.B. Ende
des 19. Anfang des 20.Jahrhunderts im „Japonisme“ in Frankreich vor allem
durch die japanischen Holzschnitte oder in Japan durch die Ryusei Kishida in der
Rezeption der Stillleben und Porträts von Cézanne.
Auf die Frage, ob eine Übersetzung der Haikus ins Deutsche schon per se eine
Übernahme oder Aneignung ist, werde ich später noch eingehen.
Ein Dialog aber ohne Aneignung setzt zunächst voraus, dass sowohl die
Fotografie, aber auch das Haiku und Shodo jeweils für sich stehen könnten. Es
setzt voraus, dass wir es mit starken künstlerischen Ausdrucksformen zu tun
haben, die in sich jeweils – so definiert Gottfried Böhm die Stärke – eine Vielfalt
von Ebenen möglicher Bezüge zur Wirklichkeit haben, aus denen immer neue
Bezüge zwischen Realität und Kunstwerk entstehen können, sich
gewissermaßen ein Zuwachs an Sein entfalten kann. Ein solcher Zuwachs an
Sein ist auch zu denken als etwas, was nicht nur zwischen Kunstwerk und
Wirklichkeit entsteht, sondern ebenfalls im Dialog zwischen verschiedenen
Werke. Dann geschieht es, wie Maria de Corral im Katalog der 51. Biennale von
Venedig schreibt, „dass Kunstwerke unsere Fähigkeit erneuern, sich
verschiedene Arten und Weisen vorstellen zu können, wie unsere Welt bewohnt
wird.“
Mit meiner Einführung möchte ich ihnen Anregungen geben, selbst aktiv an dem
vorgeschlagenen Dialog teilzunehmen. Deshalb werde ich die Sehweisen in den
drei Medien nacheinander vorstellen, um Raum zu lassen für ihre eigenen
Entdeckungen.
„Ein Garten“ Diesen Titel hat Bernadette Lahmer für die Ausstellung gewählt. Ein
Garten, das heißt, ein begrenzter Raum gestalteter Natur, so wie ihn die
Künstlerin auch hinter ihrem Haus hat. Ein kleiner umzäunter Garten, in dem alle
Elemente eines japanischen Gartens zu finden sind: Wasser, Steine,
verschiedene Moos-, Baum- und Bambusarten, sowie blühende Pflanzen, wie die
blaue Winde und Kapuzinerkresse. Von einigen dieser Pflanzen sehen wir auf
den Fotografien Details aus großer Nähe, nie sehen wir den ganzen Garten im
Überblick.
Bei der Durchsicht von Bernadette Lahmers Fotografien der vergangenen Jahre
fiel mir wieder auf, dass sie ihre Motive fast immer aus der Nähe zu sich selbst auswählt. Ihre Hände, der Mund, Falter, die sie in die Luft wirft, wie jetzt die Blätter und immer wieder Pflanzen. Früher oft zerschnitten und arrangiert, jetzt als Detail. Sie sind oft aus der von ihr erzeugten Bewegung heraus fotografiert und in einen freien Bildraum gesetzt.Sie lösen sich vom Objekt, verwandeln sich zu abstrakten Farbsetzungen und lassen dadurch etwas ganz anderes assoziieren. Im Ausschnitt, gewinnen wir auf manchen Fotografien Einblicke in Mikrokosmen neuer Räume oder Stillleben. Sie wirken paradoxer Weise sehr fremd, obwohl die Kamera unserem Auge eine Sicht aus großer Nähe ermöglicht.
Das kleine Mädchen Bernadette liebte es, bäuchlings auf der Wiese zu liegen und das geheimnisvolle Leben auf einem winzigen Stück Gras vor sich zu
beobachten. Diese Haltung gegenüber der Natur hat die Künstlerin beibehalten.
Das Kleine, scheinbar Unbedeutende, entpuppt sich in diesem intensiven
Schauen in einem anderen Zusammenhang als das Wesentliche. Details treten
hervor, anderes tritt in den Hintergrund. Gewichtungen werden anders gesetzt,
es entstehen neue Differenzierungen und Formbilder.
Bernadette Lahmers Fotografien entstehen aus einem derartigen Prozess des
Schauen, in dem sie mit der Kamera einen Augenblick festhält, der für sie die
Essenz dieses Wahrnehmungsprozesses ausmacht.
Ein solcher Augenblick kann für sie aus der von ihr ausgelösten Bewegung des
Objekts entstehen, wie bei den Blättern oder dem Bambus, wenn sich in der
Bewegung die Begrenzungen des Objekts auflösen und Zonen fast malerischer
Verwischungen entstehen. Ein solcher Augenblick kann aus dem einfallenden
Licht entstehen, das Strukturen hervorhebt oder Formen aus dunklen
Schattenzonen wachsen lässt. Er kann durch die Fokussierung von Details
entstehen, wie Teile von Stängeln oder Blattränder, aus denen plastische
Formen werden, die dem Bild einen eigenen Rhythmus geben und unseren Blick
verwirren, wenn wir die Bildebenen zu entschlüsseln versuchen.
Schauen baut sich in diesen Fotografien nicht gegenüber dem Objekt auf,
sondern vollzieht sich in ihm. Wie bei dem eigenen Körper wird das Dargestellt
zugleich von Außen, wie von Innen wahrgenommen. Als Betrachter spüren wir
diese multiple Sehweise als Öffnung zu einer differenzierten Wahrnehmung eines
veränderlichen Außen in Formen, Farben und einem Bildraum, der auch die
Leere einschließt, wie auch des Innen als subjektive, emotionale Seite: Fragilität,
Leichtigkeit, Stille, aber auch Melancholie und Erotik.
Das traditionelle japanische Haiku besteht meist aus drei Wortgruppen von 5-7-5
Lauteinheiten (Moren), die nicht identisch mit unseren Silben sind und einem
Jahreszeitenwort (Kigo). Thema dieser kurzen Gedichte sind kleine Ereignisse,
Beobachtungen, erlebte Momente und Dinge des Alltags. Die damit
verbundenen Gefühle werden - anders als in der europäischen Dichtung - nicht
benannt, entstehen vielmehr durch das Nebeneinander von Wort-Bildern. Diese
Diskontinuität innerhalb des Gedichtes lässt keine logischen Deduktionen
zu....eröffnet aber gerade deshalb ein ganz unmittelbares Erleben. Zum Ausdruck
kommt hier auch die Haltung des Zen, dass Alles in Beziehung zu anderen
Dingen existiert.
„Leichter Herbstwind ….. ein weißer Schmetterling....tanzt irr sein Lebensende“
Wir sehen ihn vor uns: Den kraftlos trudelnden sterbenden Schmetterling im
Wind.
Weiß ist in der chinesischen Farbsymbolik, die auch in Japan Eingang fand, die
Farbe des Herbstes und des Todes.
Das Haiku ist kein zum Metaphysischen tendierendes Sinngedicht, das eine
Lebensweisheit vermitteln will. Gleichwohl soll gesagt sein, dass die
geschlossene japanische Gesellschaft in der Zeit, in der die hier vorgestellten
Haikus entstanden sind, über ein Wertesystem, verfügte auf das sich die Bilder
und Ereignisse z.B. als Hintergrund für Gefühle beziehen konnten. Die Offenheit
der Gedichte durch Andeutungen und Diskontinuität wird verstärkt durch die hohe
Zahl von Homonymen im Japanischen – (eine leichte Verschiebung in der
Zusammensetzung der Lauteinheiten und daraus resultierende unterschiedliche
Bedeutung ) - die ganz verschiedene Lesarten des Gedichtes möglich machen
und so den Text gewissermaßen in der Schwebe halten. Diese Offenheit macht
das Haiku auch für heutige Leser und ganz andere Wertesysteme zugänglich.
Andererseits machen diese Eigenschaften eine Übersetzung des Haiku in das
Deutsche sehr schwer. Jede Übersetzung ist somit bereits eine Interpretation, ja
Neufassung. In der Übersetzung der ausgewählten Haikus kam es Bernadette
Lahmer und Aki Tsurumi-Geiken deshalb vor allem darauf an, das Bildhafte, den
Augenblick des Erlebens in der Schwebe der Imagination zu lassen.
So wurde aus der gefundenen Übersetzung: Im Sturm des Herbstes....Der weiße
Schmetterling schließlich....Ganz irr geworden - in der neuen Übersetzung:
Leichter Herbstwind....Ein weißer Schmetterling....tanzt irr sein Lebensende.
Im Shodo … dem Weg des Schreibens....wird in der kalligrafischen Umsetzung
des Haiku die Zeit verlangsamt. Etwas, was auch in anderen Zen Praktiken, wie
z.B. dem Bogenschießen zu Beobachten ist. Die Lebendigkeit der Linie zu
erzeugen erfordert höchste Konzentration im Prozess des Schreibens mit dem
Pinsel selbst,... schließlich sind keine Korrekturen möglich ... aber ebenso auch die Zeit in der Vorbereitung.
Die Tusche aus Ruß, Leim und Parfüm wird jedes
Mal neu auf dem Tusche - Reibstein gefertigt. Das hochwertige Papier aus
Leinen, Baumrinde oder vom Papiermaulbeerbaum wird sorgsam im Format
ausgewählt. Die Verteilung der Schriftzeichen im Verhältnis zum leeren Blatt
festgelegt, denn zu dem Fluss der lebendigen Linie gehören auch die Abstände
zwischen den Zeichen und der unbeschriebene Bildraum. „In der Leere werden
Formen geboren“ (Zit. Holmes, Horioka). Geschrieben wird dann von Oben nach
Unten, von Rechts nach Links. Aus den verschiedenen Schreibweisen wählt die
Kalligrafin eine Form aus, wobei in der Umsetzung immer auch individuelle
Schriften erkennbar sind. Sie hat auch die Möglichkeit durch die Schreibweise
bestimmte Details des Gedichtes hervorzuheben.
Ich kann die Kalligrafien - so wie wohl die meisten von ihnen - nicht als Zeichen
von Lauteinheit, Buchstabe oder Wort verstehen. Dennoch teilt sich mir etwas
mit, wie in einer abstrakten Zeichnung. Der Fluss, die Bewegung und der
Rhythmus der Linien. Ihre vegetativen Formen, die feinen Verläufe, die Spuren
des Pinsels oder die dunklen Setzungen bei Punkten oder dort, wo der Pinsel
ansetzt. Ich erkenne in den punktuellen Setzungen, den Linienverläufen,
Strukturen und dem Rhythmus die Lebendigkeit und die Ausgewogenheit der
Gesamtkomposition und sie lösen, wie ein Bild etwas aus. Wir können sie in
Bezug setzen zu den Fotografien und den Bildern des Haiku.
Natürlich bleibt uns etwas fremd. Aber fremd ist uns auch etwas in den
Fotografien.
Roland Barthes verzichtete in seinem Buch über Japan (L'Empire des Signes“ )
auf die endgültige Beschreibung des Anderen. Er schreibt nicht einen Text über
Japan, sondern über das, was Japan in ihm auslöst. Es geht ihm um die
Darstellung dessen, was erst durch die Begegnung mit etwas, das sich unserem
System entzieht,die Möglichkeit eröffnet, vorher Selbstverständliches zu
hinterfragen.
Die Kunstwerke in dieser Ausstellung geben Raum für die Schärfung unserer
Wahrnehmung, dem Vertrauen in die ausgelöste Kraft der Imagination und
unserer eigenen Interaktion mit Fremdheit.
Einige Literaturhinweise:
Steward W. Holmes, Chimyo Horioka: Tuschespuren in der Ewigkeit. Meditationen über die Kunstwerke des Zen. O.W. Barth Verlag 1994
Philippe Forest: Haukus,etc..Editions Cécile Defaut, Nantes 2008
Mavis Pilbeam (ed): The British Museum. Haiku Animals. British Museum Press, London 2011
L.Knatz, N.Caspar, T.Otabe (Hg.): Kulturelle Identität und Selbstbild. Aufklärung und Moderne in Japan und Deutschland. Studien zur Weltgeschichte des Denkens. Denktraditionen – neu entdeckt, Bd.2. Lit.Verlag Hopf, Berlin 2011
María de Corral: Vorwort zum Katalog der 51.Biennale von Venedig 2005, Marsilio, Italien
Roland Barthes: L' Empire des Signes (1966). Erschienen bei Skira, Genf 1970. Deutsch: Im Reich der Zeichen. Frankfurt/M. Suhrkamp 1981
Prof. Dr. Gottfried Böhm, Kunsthistoriker und Philosoph (Universität Basel) hat sich in zahlreichen Publikationen mit Bildgeschichte und Bildwissenschaft beschäftigt.
Wolfgang Welsch, Transculturality - the Puzzling Form of Cultures Today. In: From Spaces of Culture: City, Nation, World, ed. by Mike Featherstone and Scott Lash, London; Sage, 1999, 194-213
Mukai Kyorai, 1651-1704
Matsuoka Seira, 1740-1791
Sugiyama Sampu, 1647-1732